Bowery. Bilder einer verrufenen Straße

Im Rahmen unserer Reihe Focus Global stellen wir Ihnen erstmals eine Fotodokumentation von Carin Drechsler-Marx vor. Drechsler-Marx studierte Anfang der 60er Jahre Bildende Kunst in New York und wandte sich 1971 professionell der Fotografie zu. Nachdem sie schon von Beginn ihres Aufenthalts von der Millionenmetropole fasziniert war, führte sie ihr erstes großes Fotoprojekt in die Bowery, einer Straße im südlichen Manhattan, deren Ruf damals erheblich ramponiert war. Ihre besten Zeiten als Geschäfts-, Hotel und Bankenstraße hatte sie hinter sich, stattdessen fanden sich mehr und mehr Obdachlose hier ein, während gleichzeitig eine Subkultur mit Clubs, Künstlern, Musikern und Dichtern der Gegend eine neue Zukunftsperspektive einhauchte.

Die Schriftstellerin und Künstlerin Kate Millett, die in der Straße wohnte, schrieb dazu:

"... Hier sitze ich nun und überblicke meine Welt. Ich habe hier Männer sterben sehen, Menschenleben gerettet und Streitigkeiten geschlichtet. Diese Staße ist in allem enthalten, das ich mit meinen Händen schaffe, das ich zeichne oder schreibe. Sie hat mich befreit. Inmitten eines konformistischen Amerika habe ich hier eine Quelle unabhängiger und rebellischer Energie gefunden. Weil der Ozean immer vor der Tür tobt.

Wenn dies für eine Frau eine harte Straße ist, um hier zu wohnen, ist sie noch viel härter für die Männer, die draußen in der Hitze und Kälte leben. Ihre Not ist meine Stärke und fordert meine Entschlossenheit gegenüber jenen gesellschaftlichen Kontrollen heraus, deren sie sich entledigt und die anzuerkennen sie sich geweigert haben. Man mag in diesem Milieu leiden und erdulden, aber man kapituliert nicht ..." 1

[1] zit. Kate Millett, Vorwort, in: Carin Drechsler-Marx, Bowery. Bilder einer verrufenen Straße, Harenberg, Dortmund 1984

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Carin Drechsler-Marx beschreibt ihre ersten Begegnungen und Erfahrungen in der Bowery mit folgenden Worten:

"Im Winter 1974 machte ich meine ersten Bowery-Fotos: Es waren Aufnahmen obdachloser Männer, die in Hauseingängen Schutz vor der Kälte suchten oder, ungeachtet der Kälte, von Abfall und Schmutz umgeben, auf den Gehsteigen schliefen. Ich war schockiert, mit welcher Gleichgültigkeit Passanten und Bowery-Geschäftsleute buchstäblich über diese Menschen stolperten und tatenlos zusahen, wie ein hartgesottener junger Bursche rasch die Taschen der Liegenden durchwühlte. Mir war unbegreiflich, warum in einem so reichen Land wie den Vereinigten Staaten gescheiterte, innerlich zerbrochene, hoffnungslos dem Alkoholismus hingegebene Menschen zu Tausendern auf einer Straße Zuflucht suchen mussten, wo sie mehr oder weniger ihrem Schicksal überlassen blieben.

Während meiner zahllosen Streifzüge durch die Bowery stellte ich fest, dass diese Straße keineswegs nur Zufluchtsort für Alkoholiker und andere Obdachlose war, sondern dass hier seit Jahrzehnten viele Elemente in Harmonie – oder scheinbarer Harmonie – nebeneinander existieren: die „bums“ (wie die Obdachlosen geringschätzig genannt werden) neben einer Vielfalt von Geschäften, Theatern, Jazz- und Rocklokalen, Malern, Bildhauern und Schriftstellern. Immer mehr war ich davon überzeugt, dass es falsch wäre, die Bowery einzig unter dem Aspekt der Obdachlosigkeit zu dokumentieren, da ich sonst das in der Öffentlichkeit verbreitete Klischee, wonach die Bowery nur eine Straße der Alkoholiker ist, verewigen würde. Gleichermaßen über Nacht änderte ich mein Konzept und begann, alle Aspekte dieser Straße zu erfassen."

Die Fotodokumentation "Bowery. Bilder einer verrufenen Straße" wurde in New York und in Berlin gezeigt; in der Reihe "Die bibliophilen Taschenbucher" veröffentlichte 1988 der Harenberg Verlag eine gleichnamige Publikation. Die Bilder der Bowery von Carin Drechsler-Marx sind heute u. a. in den Sammlungen des Museum of the Ciy of New York und in The Cooper Union New York zu sehen.